„60 % überleben das erste Lebensjahr nicht“ (Gastbeitrag von Tatjana)

von mama moves
Frau im Krankenhaus.

Mein Name ist Tatjana. Ich bin 33 Jahre alt, verheiratet und habe zwei Kinder. Einen Jungen (4,5 Jahre) und ein Mädchen (1,5 Jahre). Eigentlich bin ich selbstständige Hochzeitsplanerin. Doch ein schlimmer Schicksalsschlag vor 1,5 Jahren hat unser Leben total durcheinander geworfen und uns gezwungen uns neu zu sortieren. Unsere Tochter ist leider todkrank. Nun versuchen wir unser Leben mit ihr so gut es geht zu genießen und sind dankbar für jeden Tag, den wir mit ihr geschenkt bekommen. Ansonsten versuche ich über ihre sehr seltene Erkrankung und generell über das Leben mit einem „Palliativkind“ aufzuklären, um Angst und Hemmungen zu nehmen. Zudem baue ich aktuell mit einem gemeinnützigen Verein eine Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern in unserem Landkreis auf. Denn der Austausch mit anderen betroffenen Eltern ist sehr wichtig in so einer Situation.

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ACHTUNG TRIGGERWARNUNG! In dieser Geschichte geht es um eine schlimme Diagnose, eine lebensverkürzende Erkrankung, den Umgang mit Trauer und Tod, Burnout und Panikattacken. Aber auch um den Weg da raus, Dankbarkeit, Hoffnung und grenzenlose Liebe!

Wie alles begann

Es war alles perfekt. Mein Mann und ich beide 32 Jahre alt. Seit 5 Jahren verheiratet, seit 12 Jahren ein Paar. Er erfolgreich als IT-Projektleiter bei einem großen Lebensmittelkonzern. Ich hatte mich gerade nach 10 Jahren als Rechtsanwaltsfachangestellte selbstständig als Hochzeitsplanerin gemacht. Unser perfekter 3 jähriger Sohn, unser kleines, eigenes Neubau-Häuschen auf dem idyllischen Land im Nordosten Baden-Württembergs.

Ich war in der 29. Schwangerschaftswoche und das 3. große Screening stand an. Wir haben uns auf den Ultraschall gefreut, das Babymädchen sehen. Nach einiger Zeit erschien mir der Ultraschall jedoch ungewöhnlich lange. Die Ärztin schallte und schallte, einmal messen, nochmal messen. Bis sie irgendwann endlich etwas sagte: „Ich bin mir nun nicht so ganz sicher, wir haben den Entbindungstermin schon einmal nach hinten korrigiert. Nachdem was ich nun messe, müsste ich es nochmal korrigieren. Dann würde Sie aber 4 Wochen nach hinten fallen. Sie ist einfach viel zu klein. Ich schicke Sie lieber vorsichtshalber zur Feindiagnostik“. Mit diesen Worten, einem Termin im Krankenhaus und einem mulmigen Gefühl verabschiedeten wir uns. Einige Tage später im Krankenhaus bei der Feindiagnostik das gleiche Spiel. Gefühlt eine halbe Ewigkeit drückte der Arzt auf meinem Bauch herum, das Baby tobte und wehrte sich regelrecht dagegen. Und dann sagte er etwas, das wir nie wieder vergessen werden: „Die Oberarme sind 1/3 zu kurz. Normalerweise sind es die Oberschenkelknochen, die auffällig sind, das würde auf einen Kleinwuchs hinweisen. Aber dass die Oberarmknochen so kurz sind ist ungewöhnlich, das habe ich auch noch nie gesehen. Es deutet auf jeden Fall auf einen Kleinwuchs hin, da sie auch generell sehr klein ist. Stellen Sie sich auf mehr ein, ein Kleinwuchs kommt selten alleine. Alles andere wird man dann am Kind sehen, wenn es da ist.

Es war später Abend Ende November und auf der Heimfahrt haben wir uns in die Haare gekriegt bei all den Theorien und Gedanken, was sie denn haben könnte. Wie sich das Leben ändern würde, wenn sie wirklich krank ist oder einen Handicap hat. Wenn man schwanger ist, malt man sich alles so schön aus. Keiner stellt sich ein krankes oder behindertes Kind vor. Darauf waren wir in unserer heilen Welt nicht vorbereitet. Wir haben uns dann aber nach einigen Tagen darauf geeinigt, keine Theorien mehr aufzustellen. Solange wir nicht wissen was sie wirklich hat, machen all diese Spekulationen einen nur wahnsinnig. Wir versuchten uns weiterhin auf unser Babymädchen zu freuen. Die Schwangerschaft wurde zu einer Liegeschwangerschaft, denn man wollte verhindern, dass sie zu früh geboren wird. Sie war so klein und man wollte ihr jeden Tag den sie nur kriegen konnte im Bauch zum Wachsen ermöglichen.

Der Horror beginnt

3 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin kam unsere Tochter Leonie in einer schnellen und unkomplizierten Wassergeburt mit 44 cm und 2600 g zur Welt. Sie wurde in „grünem Fruchtwasser“ geboren, das heißt, dass sie das Mekonium (Kindspech) schon im Bauch abgegeben hatte, was zu einer Infektion / Vergiftung des Babys führen kann. Zudem weinte sie nicht, wie man es eigentlich erwartet. Wir mussten sie eine Weile stimulieren, damit sie einen Ton von sich gibt und atmet. Als sie endlich einen Laut von sich gab, hörte man schon, dass sie scheinbar Wasser in der Lunge hatte. Vermutlich das Fruchtwasser. Da auch bekannt war, dass „irgendwas mit ihr nicht stimmt“ hat die Hebamme sie doppelt und dreifach untersucht. Ich war in dem Moment einfach nur glücklich mein Babymädchen auf dem Arm zu haben. Sie endlich kennenlernen zu können nach den schwierigen letzten Schwangerschaftswochen. Sie war so winzig und so süß und ich habe sie einfach nur festgehalten und versucht sie zu beschützen. Circa 2 Stunden nach der Geburt ist der Hebamme aufgefallen, dass Leonie sehr grau aussieht und sie schloss sie vorsichtshalber an den Überwachungsmonitor an, welcher einen Wert von 89 bei der Sauerstoffsättigung anzeigte. Zu niedrig, im Idealfall müsste es über 96 liegen, sonst kann das Gehirn aufgrund des Sauerstoffmangels Schäden davontragen. Der Kinderarzt wurde verständigt. Kurze Zeit später stand auch schon der Notarzt und drei Assistenten vor mir. Sie nahmen mir mein Babymädchen weg, untersuchten und verkabelten sie, legten ihr einen Zugang. Leonie wurde in einem riesengroßen, mobilen, orangenen, piepsenden Inkubator weggefahren und in eine Kinderklinik verlegt. Ich wurde wenige Stunden nach der Geburt auch mit dem Taxi „verlegt“. Mein Mann durfte mich aus versicherungstechnischen Gründen nicht fahren. Ich wurde vor der Eingangstür des Krankenhauses abgesetzt. Nachdem mein Mann einen Rollstuhl organisiert hatte, sind wir in die Kinderklinik und haben unsere Tochter gesucht. Gefunden haben wir sie auf der Intensivstation, vollverkabelt an irgendwelchen Minitoren im Inkubator. Sie hatte auch schon eine Nasensonde drin, weil sie selbst keinerlei Anstalten machte zu saugen und sonst dehydrieren würde. Der Zugang in ihrem winzigen Ärmchen sah brutal aus.

Es folgte eine wochenlange Odyssee aus Untersuchungen. Sätze fielen, die einen absolut hilflos, ängstlich und verzweifelt machten. Je mehr die Ärzte untersuchten, desto schlimmer wurde es. Die Hüfte war im Ultraschall auffällig. Die Hüftpfanne schien in Ordnung, aber das Hüftgelenkt war nicht richtig darstellbar, was sich keiner erklären konnte. So wie es aber aussieht, ist es irreparabel meinte der Arzt. So würde sie nicht laufen können. Also wurde ein Röntgenbild gemacht. Es zeigte, dass an allen Gelenken scheinbar Verkalkungen vorhanden sind. Und die Gelenkköpfe scheinen vergrößert und nicht richtig in die Gelenkpfannen zu passen. Also hat sie wahrscheinlich auch funktionelle Einschränkungen, das heißt das man nicht weiß, ob sie ihre Arme und Beine überhaupt richtig bewegen kann. War es Gicht, Rheuma, Arthrose? Man wusste es nicht, die ganzen verschiedenen Symptome passten nicht zusammen. Sie konnte kaum bis gar nicht selbst schlucken, sodass auch scheinbar etwas mit der Speise- oder Luftröhre sein musste. Anhand der Röntgenbilder hatte der leitende Oberarzt der Kinderorthopädie eines anderen Krankenhauses, welcher zusätzlich konsultiert wurde, eine Idee, was es sein könnte. Es wurde daraufhin ein Gentest gemacht. Bis der Gentest da war, ging das Symptome suchen fröhlich weiter.

Nach 12 Tagen, an denen wir unsere Leonie mittlerweile Ü-Ei nannten, weil gefühlt jeden Tag neue Symptome gefunden wurden, entdeckte die Kinderärztin der Station bei der U2, dass Leonie scheinbar grauen Star hat. Also wurde auch die Augenklinik konsultiert. Diese bestätigte leider den Verdacht. Leonie hatte fortgeschrittenen grauen Star auf beiden Augen. An diesem Tag bin ich das erste Mal zusammen gebrochen. Eigentlich war ich ja im Wochenbett, ich hatte Geburtsverletzungen, mein Hormonhaushalt war total durcheinander, ich stand sehr viel an ihrem Bettchen oder sahs sehr unbequem auf Stühlen um abzupumpen. Alle 2 Stunden, Tag und Nacht, damit Leonie die Milch sondiert werden kann. Schlafen ist auf einer Neugeborenen-Station auch kaum möglich. Und dann musste man all diese Diagnosen ja auch irgendwie psychisch verkraften. Zudem haben wir ja noch einen gesunden Sohn, der mit seinen 3 Jahren natürlich die Welt nicht mehr verstand und auch litt unter der Situation. Ich wollte nach Hause, mich ausruhen. Ich wollte, dass der Albtraum endlich aufhört. Nach 3 Wochen im Krankenhaus konnte Leonie trotz aller Bemühungen nicht trinken und so wurde ich auf das sondieren eingelernt. Zu diesem Zeitpunkt fuhr ich auf Autopilot. Ich habe nur noch gemacht. Ich hatte seit 3 Wochen keine 2 Stunden mehr am Stück geschlafen, musste gucken wie ich mich selbst körperlich erhole und das alles psychisch verkraften. Also lernte ich das Sondieren. Es fühlte sich an wie im falschen Film sowas lernen zu müssen und dann diese Verantwortung zu tragen.

Die Ärzte wollten uns lange nicht sagen, welche Vermutung sie hatten bezüglich der Krankheit. Solange die Diagnose nicht bestätig ist, wollten sie uns nicht verrückt machen. Uns war klar, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Aber ich wollte auch nicht mit ihr nach Hause ohne zu wissen was sie hat. Als Leonie nach knapp 4 Wochen und soweit stabil war, wurden wir entlassen. Mit Magensonde und Überwachungsmonitor. Zwei Tag vorher nannte uns der Oberarzt der Station dann endlich den Namen der Krankheit, welche Leonie hat. All ihre Symptome passten zu der beschriebenen Krankheit, sodass sich die Ärzte zu 99,9% sicher waren, dass es das sein muss.

Leonie hat rhizomele Chondrodysplasia punctata (RCDP). Eine angeborene Skelettfehlbildung mit punktförmigen Verkalkungen im Knorpelgewebe in der Nähe der Gelenke, des Kehlkopfes und der Luftröhre. Es ist eine syndromale Erkrankung, d.h es gibt eine „Haupterkrankung“, in diesem Fall die Skeletterkrankung, die mit viele anderen charakteristischen Symptomen für diese Krankheit einhergeht, wie einer Soffwechselstörung, extreme Immunschwäche und vielen anderen Fehlbildungen. Unter anderem unproportionaler Kleinwuchs mit verkürzten Oberarmen und Oberschenkeln (rhizomel); starke Schluckprobleme, dadurch die Gefahr des Verschluckens; Atemprobleme; sehr anfällig für Atemwegserkrankungen; Bradykardie (Verlangsamung des Herzschlags, die Herzfrequenz fällt); Gelenkkontrakturen (Stark eingeschränkte (schmerzhafte) Gelenkbeweglichkeit (Schultern, Ellenbogen, Hüfte, Knie)); grauer Star (beidseitig); unterentwickelte Nasenwurzel/kein Nasenrücken; Spaltwirbeln (Fehlbildung der Wirbelsäule); Schwerhörigkeit; Verhornungsstörung der Haut; Kaum therapierbare Skoliose; geistige Behinderung / Unterentwicklung; Krampfanfälle und Epilepsie; Phytansäue im Plasma erhöht, dh. dass die Kinder eine Unverträglichkeit gegen Wiederkäuer und Milchprodukte haben, man also zusätzlich auch auf die Ernährung achten muss. Es müssen natürlich nicht alle Symptome auf einmal bei einem Kind auftreten. Es ist ein vererbter Gendefekt und die Wahrscheinlichkeit für diese Krankheit liegt bei 1:100.000 – also unendlich selten. Die Krankheit ist nicht heilbar und man kann nur die Symptome mildern. ⠀

Ich fragte nach all diesen Informationen ganz automatisch nach der Lebenserwartung, welche für Kinder mit RCDP unsagbar schlecht ist. Allein diese Frage zu stellen erschien wie ein schlechter Witz. Als Antwort darauf hörte ich den schlimmsten Satz meines Lebens: „Laut einer Studie des Kennedy Krieger Institut überleben 60% der Kinder das erste Lebensjahr nicht, 39% das zweite nicht. Somit schafft es gerade mal 1% ins dritte Lebensjahr.“

Bäähm… hatte mich gerade ein ICE bei voller Fahrt gerammt? Denn so fühlte es sich an. Ein Schlag mitten in die Fresse. Es reißt einem den Boden unter den Füßen weg. Man ist wie gelähmt. Alles, was man an Vorstellungen von seinem Leben hatte, zerbricht in Millionen kleine Teile. Einem wird schlecht. Man will schreien und irgendetwas kaputt machen. Man ist so machtlos, hilflos, ängstlich, wütend und so traurig. So unendlich traurig. Man hält sein neugeborenes Baby auf dem Arm und trauert. Auf sowas bereitet einen niemand vor.

Wir wurden nach 26 Tagen endlich nach Hause entlassen. Die ganze Zeit war einfach nur furchtbar. Sondieren, Reflux, Bradykardien, extremster Schlafmangel, ein 3 jähriger, der mit seiner Schwester spielen will, aber nicht richtig darf, Physiotherapie, Logopädie, Streitereien wegen Überforderung. Und Trauer um das Leben, das wir nie haben werden. Trauer darüber, dass unsere Tochter angeblich todkrank sein soll. Der Schmerz war so groß, dass ich ihn kaum in Worte fassen kann. Wir gingen am Zahnfleisch. Nach 2 Wochen zuhause musste ich auch wieder mit ihr ins Krankenhaus. Ihr wurde der grau Star bei einer Operation entfernt. In den ersten 4 Monaten waren wir mehrere Male für mehrere Tage und Wochen aus den verschiedensten Gründen mit ihr im Krankenhaus. Wir kannten alle Ärzte und Krankenschwestern und gehörten (trauriger Weise) schon fast zum Inventar im Krankenhaus. Es war klar, dass es so nicht weitergehen kann. Wir brauchten ganz dringend Hilfe. Wir brauchten Schlaf und unser Sohn wenigstens 30 Minuten Mama-Sohn-Zeit. Zuerst wehrte ich mich dagegen, aber ich sah ein, dass es nicht anders ging. Also suchten wir mit Hilfe der Sozialarbeiterin aus der Klinik einen Pflegedienst für Zuhause.

FORTSETZUNG FOLGT

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1 Kommentare

Roukaya 21. Mai 2021 - 10:10

Ich hatte das selbe Schicksal wie du, mein Sohn hatte auch diese schlimme Erkrankung wie deine Tochter und ist vor 4 Monate verstorben..

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