„60% überleben das erste Jahr nicht“ – Teil 2 (Gastbeitrag von Tatjana)

von mama moves
Glückliche Frau

Den ersten Teil dieses Beitrags liest du hier.

ACHTUNG TRIGGERWARNUNG! In dieser Geschichte geht es um eine schlimme Diagnose, eine lebensverkürzende Erkrankung, den Umgang mit Trauer und Tod, Burnout und Panikattacken. Aber auch um den Weg da raus, Dankbarkeit, Hoffnung und grenzenlose Liebe!

Aufatmen und Akzeptanz

Wir hatten drei wunderbare und einfühlsame Krankenschwestern. Und so hatten wir für einige Stunden in der Woche etwas Unterstützung. Die Zeit, wenn die Krankenschwester da war nutzte ich hauptsachlich für unseren Sohn, denn zeitgleich war der erste Corona-Lockdown und unser großer den ganzen Frühling Zuhause. Was für eine unglaubliche Belastung durch den Lockdown noch on Top für uns kam, kann sich ja mittlerweile jeder selbst vorstellen.

Mein Mann und ich haben in der Zeit sehr viel miteinander geredet. Wir haben mit den Krankenschwestern, dem Kinderarzt, der Familiennachsorge der Klinik und den Therapeutinnen, die zum Glück zu uns nach Hause kamen, weil Leonie nicht transportfähig war, geredet. Ich habe sehr viel gelesen, recherchiert und eine Facebookgruppe von betroffenen Eltern mit Kindern mit dieser Erkrankung gefunden, wo ich mich auch sehr viel austauschen konnte. Endlich waren wir nicht alleine und es gab tatsächlich andere, die sich „auskannten“ und uns Tipps geben konnten. Denn keiner der behandelten Ärzte wusste was mit unserer Zaubermaus anzufangen, weil die Krankheit so unendlich selten ist.

Und ganz langsam fingen wir an es zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass sie so krank ist. Zu akzeptieren, dass unser Leben anders aussehen würde als gedacht. Zu akzeptieren, dass wir sie irgendwann werden gehen lassen müssen. Wir sahen ein, dass der Kampf gegen das was ist, uns nur leiden lässt. Wir können an ihrer Krankheit nichts ändern. Aber wir können die Sichtweise auf die Situation ändern und das Beste draus machen. Raus aus der Opferrolle und der Frage nach dem Warum. Denn darauf kriegen wir keine Antwort. Alles im Leben hat einen Sinn, das wissen wir jetzt. Leonie kam aus einem bestimmten Grund zu uns. Diese Sichtweise half uns, unseren Weg zurück ins Leben zu finden, raus aus unserer Krankheitsblase.

Den Frühling und Frühsommer genossen wir in unserem Garten. Keine stationären Krankenhausaufenthalte mehr. Wir mussten zwar öfters zu ambulanten Terminen dahin, aber das war ok. Leonie hatte viele gesundheitliche Hochs und Tiefs, war in dieser Zeit aber einigermaßen stabil. Und so genossen wir wenigsten ein bisschen das warme Wetter, unser Haus und unsere Familienzeit.

Mit 6 Monaten kam Leonie wegen einer Lungenentzündung ins Krankenhaus. Nach 7 Tagen wurden wir mit Sauerstoff wieder entlassen. Ihr ging es nicht mehr so gut wie davor und sie hatte Atemprobleme. Zudem bekam sie nun regelmäßig Schmerzmittel, da sie offensichtlich schmerzende Gelenke hatte.

Abschied – oder doch nicht?

6 Wochen nach der ersten Lungenentzündung bekam sie die nächste. Diese Entzündungen sind auch krankheitsbedingt, da Kinder mit dieser Erkrankung nicht richtig schlucken können und sich oft verschlucken / aspirieren und so dann die Lungenentzündungen entstehen. Bei der zweiten Lungenentzündung lag Leonie dann auf der Intensivstation und wurde zusätzlich mit CPAP (unterstützt Betroffene bei der Atmung, indem die oberen Atemwege dauerhaft durch einen positiven Beatmungsdruck offen gehalten werden) beatmet, da sie selbst nicht richtig einatmet und noch schlechter Ausatmet. Dadurch ist die Gefahr, dass sie sich selbst mit CO2 vergiftet und in ein CO2-Koma fällt, extrem hoch.

Als sie nach 2 Wochen einigermaßen stabil war, wurde ihr eine PEG-Sonde angelegt (dient der künstlichen Ernährung. Dabei wird mithilfe eines endoskopischen Verfahrens ein künstlicher Zugang zum Magen geschaffen). Eigentlich kein großer Eingriff. Aber leider gab es hierbei Komplikationen und ihre Lunge kollabierte. Danach lag sie 3 Wochen im künstlichen Koma. Das erste Mal extubieren hat nicht geklappt. Die Ärzte taten alles, was die Intensivmedizin hergab, um die Lunge wieder „fit“ zu machen und Leonie eine faire Chance zu geben. Doch eigentlich hatte kaum einer die Hoffnung, dass sie ein nochmaliges extubieren überleben würde. Wir haben sie im Krankenhaus nottaufen lassen, uns von ihr verabschiedet, sogar über die Beerdigung haben wir gesprochen und dann wurde sie extubiert. Wir warteten Minuten, Stunden, Tage… und sie atmete. Sie atmete tatsächlich mit Hilfe von CPAP weiter. Wir hatten sie „extubiert zum sterben“, aber sie atmete.

Ein neues Leben

3 Wochen nachdem sie erfolgreich extubiert wurde, und nach insgesamt 8 Wochen auf der Intensivstation, wurde sie in ein Kompetenzzentrum für beatmete Kinder in der Nähe von Tübingen verlegt, welches einmalig ist in ganz Europa. Sogar Kinder aus anderen Ländern sind dort. Da sie ein 24-Stunden-Pflegefall ist und unser Pflegedienst, den wir zu Hause hatten, das nicht mal ansatzweise abdecken konnte, ist sie heute noch dort.

Aufgrund des künstlichen Komas und der Medikamente sind ihre Nieren nun auch noch irreparabel geschädigt. Dass sie damit überhaupt noch da ist, ist wieder ein Wunder, denn eigentlich meinte der Arzt, der das im Oktober 2020 festgestellt hat, dass sie damit wohl kaum 3 Wochen überstehen wird.

Leonie wird palliativ behandelt. Da sie lebensverkürzend erkrankt ist bedeutet das in ihrem Fall, ihr das Leiden so gut es geht zu verringern und die Lebensqualität somit zu verbessern. Dazu gehört auch auf eine möglicherweise lebensverlängernde Therapie zu verzichten, wenn diese mit unverhältnismäßigem Leiden einhergehen würde. Leonie bekommt sehr viele, sehr starke Medikamente, die teilweise unter das BtMG laufen. Alle zwei Stunden. Etwas gegen die Entzugserscheinungen vom Morphium. Diuretika für die Niere. Schmerzmittel gegen die starken Gelenkschmerzen. Etwas zur Beruhigung, damit sie das CPAP „erträgt“. Etwas damit sie schlafen kann und auch mal eine die Tiefschlafphase kommt. Und eine Low-dose-Antibiose, da es bei Harnentleerungsstörungen bei den katheterisierten Patienten oft zu wiederkehrenden Harnwegsinfekten kommt, die unkontrolliert in so einem labilen Zustand schnell sehr gefährlich werden können. Diesen Fall hatten wir wenige Tage vor Weihnachten 2020. Da ging es ihr sehr schlecht wegen dem Infekt. Ihre Sauerstoffsättigung war trotz Gabe von 15 l Sauerstoff nicht gut. Sie hatte stark Wasser eingelagert, was Schmerzen und Atemnot verursachte. Tagelang hat man das Fieber nicht unter 39°C bekommen und der ihr Allgemeinzustand wurde immer schlechter. Das Palliativteam der Uniklinik Tübingen war für den Notfall schon verständigt. Man setzte eine Zweifachantibiose an, aber keiner wusste, ob sie die Nach übersteht. Sie überstand die Nacht und in kleinesten Schritten ging es ihr langsam etwas besser. Am 31.12.2020 hatte sie dann zwei Epileptische Anfälle. Diese sind auch charakteristisch für die Erkrankung. Seitdem ist sie aber zum Glück von weiteren verschont worden. Sie wird auch seit ihrem 1. Geburtstag 24-Stunden-dauerdurchsondiert, da sie alle 4 Stunden die Menge, die sie braucht, nicht vertragen hat bzw. es nicht in ihren Magen gepasst hat.

Unsere Leonie ist tatsächlich nach alledem schon 1 Jahr und 4 Monate alt. Somit hat sie diese furchtbare Studie „geschlagen“. Sie gehört zu den 40 %, die das erste Lebensjahr überleben, wenn auch nur knapp.

Aktuell ist sie „stabil“ auf einem sehr, sehr labilen Allgemeinzustand. Es darf sich nichts in den Medikamenten oder der Beatmungsintensität ändern, denn dann gerät sie in einen für sie extrem lebensbedrohlichen Stress. Sie muss jede Woche gewogen werden um zu sehen, ob sie durch die kaputte Niere Wasser einlagert. Wenn ja, muss man sich Wege überlegen, um die Niere wieder mehr unterstützen zu können. Zudem muss man auch stets die Medikamentendosis anpassen, da sie sonst starke Schmerzen hat und in einen Entzug kommt, was fatal ist.

Seit nun 7 Monaten ist Leonie schon in dem Kompetenzzentrum für beatmete Kinder. Von uns aus sind es knapp 2 Stunden Fahrt. Wir besuchen sie 4x die Woche. Mein Mann und ich im Wechsel. Wenn es ihr schlecht geht, natürlich auch öfter oder wir schlafen dort. Wir sind so unendlich dankbar, dass es diese Möglichkeit mit dem Kompetenzzentrum überhaupt gibt, sonst wüssten wir nicht wohin mit ihr und mit uns. Der Pflegedienst den wir Zuhause hatten, hat uns auch durch die Blume mitgeteilt, dass Leonie zu „krass“ ist für die Pflege daheim und dass man diese Verantwortung einer Kinderkrankenschwester alleine und einem Kinderarzt, der nicht direkt vor Ort ist, nicht „zumuten“ kann. Somit besteht auch keine Chance, dass Leonie wieder nach Hause kommt. Nun auch aufgrund des extremen Pflegekräftemangels in Deutschland. Es ist schwer sein Kind nicht bei sich zu haben. Abends wieder nach Hause zu fahren fällt mir auch nach 7 Monaten immer noch sehr schwer. Wir vermissen sie extrem. Uns wurde diese Entscheidung mehr oder weniger abgenommen. Doch in dem Kompetenzzentrum ist sie bestmöglich versorgt. Das komplette Team dort ist einfach ein Segen. Sie bekommt dort verschiedene Therapien und muss auch nicht mehr ambulant ins Krankenhaus, weil alle Ärzte dorthin kommen. Ihr Zustand wird schleichend immer etwas schlechter. Keiner weiß, wie lange die Nieren das noch mitmachen. Durch die Grunderkrankung konnte sie ohnehin schon schlecht atmen. Wenn wir bei ihr sind, versorgen wir sie, knuddeln mit ihr und genießen einfach jede Minute, die uns mit ihr geschenkt wird. Es ist der Wahnsinn, wie stark sie ist und was für einen Lebenswillen sie hat.

Ich hatte schon nach der Geburt unseres ersten Sohnes eine leichte postnatale Depression. Was das letzte Jahr mit mir gemacht hat, kann ich kaum beschreiben. Angstzustände, Panikattacken, Burnout, extremes Untergewicht wegen all der Belastung und vieles mehr. Natürlich leiden auch mein Mann und unser Sohn unter der Situation. Einem 4 Jährigen das alles verständlich zu machen ist eine der schwersten Aufgaben, nach der Akzeptanz all dieser Umstände.

Doch wir haben uns ganz langsam aufgerappelt. In den letzten 4 Monaten, als Leonie einigermaßen stabil war, konnten wir durch viele verschiedene Dinge ganz langsam wieder etwas Energie tanken. Mir helfen Yoga, Ayurveda, der Austausch mit anderen betroffenen Eltern und das Schreiben. Für meinen Mann ist die Gartenarbeit seine Meditation. Wir konnten die Dinge etwas verarbeiten, unser Leben neu sortieren und annehmen. So etwas verändert einen, macht einen stärker und dankbar. Dankbar für Dinge, die einem sonst absolut selbstverständlich vorkommen. Es macht einen dem Leben gegenüber demütiger und lässt einen mit viel weniger zufrieden sein. Der Austausch mit anderen betroffenen Eltern hat mir persönlich sehr bei diesem Prozess geholfen. Aktuell bin ich mit Hilfe eines gemeinnützigen Vereins dabei eine Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern bei uns im Landkreis aufzubauen. Zudem versuche ich über meinen Instagram Account ein wenig über Behinderung und das Leben mit einem Palliativkind aufzuklären und dem Gehör zu verschaffen. Sehr oft werden die Eltern und die Geschwisterkinder, die traurigerweise „Schattenkinder“ genannt werden, dabei vergessen. Ich möchte Mut machen und auch ermutigen um für sich selbst laut zu werden und einzustehen. Wenn ich damit nur einer Familie helfen kann, bin ich schon glücklich.

Tatjanas Instagram Account: Instagram Tatjana

1 Kommentare

Marina Breu 28. Mai 2021 - 19:22

Das hast du super geschrieben Tatjana. Der 1.Teil von der Geburt wieder spiegelt unsere Geschichte als unsere Maus auf die Welt kam.
Leider hat die Krankheit verschiedene Abläufe ,mal bessere und mal schlechtere. Kein Arzt kann dir genau sagen wie das alles abläuft,daher sagt die Statistik leider nichts aus.
Unsere Luisa hat die selbe Krankheit wie Leonie.
Luisa wird im September schon 11 Jahre,lebt bei uns Zuhause und wird nur von uns betreut. Muss aber noch dazu sagen,das sie nicht beatmet wird.

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